Als Wolfgang Bamminger am 6. Juni 2012 Flug Köln-Wien besteigt, hat er keine Ahnung, dass bald alles anders sein wird. Im Anflug auf Schwechat gibt es Turbulenzen. Der Jet dreht nach rechts, geht in den Sturzflug – und richtet erst ganz knapp vor dem Aufprall die Nase wieder nach oben. „Mir wurde schlagartig klar: Ich habe mein Leben nicht gelebt. Dabei hast du nur dieses Eine“ sagt Claudia Bamminger heute. „Und ich dachte: War es das? Wenn nicht, dann ist das heute der Tag der Entscheidung. Der erste Schritt am Weg zur Heilung“.
„Mir stieg die Röte ins Gesicht. Es hat gebrodelt in mir. Und trotzdem habe ich geantwortet: Auch Männer können gepflegte Hände haben“
Claudia Bamminger
Dabei war sie schon so oft davor, diesen ersten Schritt zu tun. Als Sie eine Kollegin auf Ihre etwas damenhafte Brille anspricht. Als eine Assistentin sie fragte, ob Sie da tatsächlich – als Mann – mit Klarlack lackierte Fingernägel hätte. „Mir stieg die Röte ins Gesicht. Ich wollte es so unbedingt erzählen. Es hat gebrodelt in mir. Und trotzdem habe ich geantwortet: Ja – auch Männer können gepflegte Hände haben“ sagt Claudia.
Claudia Bamminger, gebürtige Tirolerin, führt ein ziemlich männliches erstes Leben. Sie liebt das Schrauben in der Werkstatt ihres Vaters, absolviert die HTL, studiert technische Physik, vergöttert eine Frau, ist auf Wolke sieben, heiratet und wird Vater zweier Kinder. Nimmt einen gutbezahlten Managementjob in Deutschland an. Heimweh? Hat der Ernährer nicht. Schwäche? Zeigt man nicht, wenn man ein Einfamilienhaus abbezahlen muß. Und trotzdem weiß Wolfgang, wie Claudia in ihrem ersten Leben hieß, dass mit ihr etwas nicht stimmte. „Was ist mit mir los? Ist meine Seele weiblich? Lebe ich im falschen Körper?“ Nein, der Körper ist schon der Richtige. Es sind nur manche Merkmale falsch, denkt sie.
Auf so vielen Ebenen ist das Leben für Claudia schwer. Sie fühlt anders als sie handelt. Sie tut anders als sie denkt. Sie erfüllt Anforderungen. Sie spielt Rollen. Sie kann, so empfindet sie das, nicht sie selbst sein. Was früher einfach war, wird mit zunehmender Reife immer schwerer. Auch, weil sie sich jetzt selbst bewusster ist. War der gutbezahlte Managementjob in Deutschland – weit weg von der Familie – vielleicht doch auch eine Flucht? So wie das Schrauben in der väterlichen Werkstatt? „In der Früh aufstehen, in den Spiegel sehen und abzulehnen was man sieht, hat mich so viel Kraft gekostet“ sagt Claudia.
Aber ist das Beschreiten des „Weges“ eine Option? Wie kann eine Ehe funktionieren – angesichts solch einer Veränderung? Was tue ich meinen Kindern an? Und: „So viele Leute verlieren ihren Arbeitsplatz, wenn Sie sich in den Transitionsprozess begeben“ sagt Claudia. „Wenn du eine Position bekleidest, in dem du Kundenkontakt hast, löst das zwangsläufig Irritationen aus. Du bist halb Mann, halb Frau.“
Sorgen, an denen Claudia fast zerbricht. Angst vor Zurückweisung. Angst Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu ent-täuschen, weil sie diese Jahrelang über ihr innerstes ge-täuscht hat. Kummer, den gar nicht so wenige Menschen haben, weil sie anders sind – oder sich so fühlen.
Die ersten Trippelschritte am Weg machen Claudia Mut. Dem früheren Studienkollegen den sie nach langer Zeit wieder trifft, vertraut sie sich an. „Das ist mehr als Frauenkleider tragen“ sagt sie ihm. Und er sagt ihr: Ich kann das zwar nicht nachempfinden – aber du wirst ganz sicher mein Freund bleiben. Die Unterhaltung mit ihrer Arbeitskollegin Claudia, die sie ins Vertrauen zieht, weil sie so verzweifelt ist, gibt ihr Kraft. Sie nimmt sie in den Arm und sagt: „Ma, bin ich jetzt froh, dass du das ansprichst. Ich habe mir schon so viele Gedanken um dich gemacht.“ Und Claudia macht Claudia Mut: Sprich mit Johannes, deinem Abteilungsleiter. Mit Gerhart Ebner, dem Chef. Ich bin sicher, die werden Dich nicht fallen lassen.“
„Für uns hier im Haus ist das in absolute Normalität übergegangen.“
Gerhart Ebner, Geschäftsführer und Eigentümer Risk Experts
Der Tag der Entscheidung in ihrem Berufsleben kam mit Verzögerung. Immer wieder schiebt Claudia das Gespräch auf. Auf dem Weg nach Hause trifft sie ihren Chef – als er, kurz angebunden, auf dem Weg zurück ins Büro ist. Jetzt oder nie? Jetzt! „Ich erinnere mich exakt, wo an der Ecke zur Engelsberggasse wir gestanden sind, als Frau Bamminger mich ins Vertrauen gezogen hat“ sagt Gerhart Ebner. „Mein erster Gedanke war: Ihre Kinder, ihre Familie, ihre Eltern: Das wird eine harte Zeit für sie. Aber ich bin ein Feind von Mitleid. Ich bin ein Freund von Lösungen. Deshalb war mein zweiter Gedanke: Wie gehen wir damit um?“
Was Ebner umtreibt ist eine Frage: Wie wird Claudia mit Zurückweisung umgehen? Was, wenn ihr ein Kunde hässliches an den Kopf wirft? Die Zusammenarbeit verweigert? Was, wenn Kollegen sie mobben? Schafft sie das? Hätte sie die Kraft, die Sache nicht eskalieren zu lassen? Ebner hat Verantwortung für alle seine Mitarbeiter – nicht nur für Claudia.
Aber am Ende des langen Gespräches sagt er: „Herr Bamminger. Wir packen das gemeinsam.“ Der Satz bedeutet die Welt für Claudia, das kann man ohne Übertreibung sagen. Viele Transitionen – so heißt der Weg, auf den sich Transmenschen begeben – laufen schwer und unglücklich, weil das Umfeld, die Familie, der Job, zerbricht. Zumindest an letzterem würde Claudia nicht zerbrechen.
Claudia, Johannes Matzka, ihr Abteilungsleiter und Gerhart Ebner treffen sich jetzt öfters. Sie feilen an einem Plan, wie Claudia „es“ am Besten erzählt. Kleine Gruppen, jeweils mit einer Person, von denen man annimmt, dass Schwierigkeiten auftreten könnten. „Du kennst Deine Leute, du weißt, für wen das ein Problem ist“ sagt der Abteilungsleiter zum Boss. In einem Brief erklärt sich Claudia ihren Kunden. Sie erzählt von ihrem Leidensdruck. Sie beschreibt die Veränderungen, die stattfinden werden. Sie verrät ihren neuen Namen.
„Ich habe soviel Unterstützung erfahren. Selbst von Leuten, von denen ich das genaue Gegenteil erwartet habe.“
Claudia Bamminger über ihren (beruflichen) Weg zur Geschlechtsanpassung
Wenn es etwas gegeben hat, was Claudia auf ihrem Weg überwältigt hat, dann wie viel Unterstützung sie erfährt. Wie viel Kraft ihr selbst ziemlich fremde Menschen gaben. Der Ordner mit Rückmeldungen auf Ihr Kundenmail liest sich wie die gesamte Bandbreite menschlicher Wärme: ‚Ich freue mich für Sie’ steht da. Oder: ‚Großartig. Viel Kraft.’ Und eine Kundin schreibt ihr: ‚Wenn Sie Unterstützung in Frauensachen brauchen, bin ich gerne für sie da’. Claudia kann es nicht fassen: „Selbst Leuten, von denen ich das Gegenteil erwartet hätte habe ich Unterstützung bekommen“ sagt Claudia.
Wenn es geharkt hat – auch das hat es – steht ihr Boss vor ihr. „Ich habe den Job von Frau Bamminger ja schon selbst gemacht und ein gewisses Standing. Ich habe dann gesagt: Was ist denn bitte eigentlich wirklich ihr Problem?“ sagt Gerhart Ebner.
„Ich habe so viele Schauergeschichten über die Transition gehört“ sagt Claudia. Die allermeisten sind für Claudia nicht eingetreten. „Ich habe mir als ich 2012 den Weg eingeschlagen habe, gewünscht, die humorvollen und lustigen Seiten erleben zu dürfen.“ Davon hat sie, das weiß sie jetzt, reichlich abbekommen. Denn die Ironisierung klassischer Rollenbilder ist eine schier unerschöpfliche Quelle von Humor.
Etwa mitten in einer Fabrikshalle. Als Claudia zu einem Schadensfall kommt, den sie zwei Jahr zuvor als Mann bearbeitet, fragt der Betriebsleiter: „Ah, Frau Bamminger, sind sie die Gattin vom Herrn Bamminger?“ Als sie den Sachverhalt aufklärt, meint er: „Na das Beste von zwei Welten! Jetzt habe ich eine Dame als Ansprechpartner – und kann auf Augenhöhe kommunizieren.“ Auch die Kollegen haben Rollenironie: Beim Shooting des Aufmacherfotos nimmt ein Arbeitskollege den Fotografen zur Seite – und sagt in verschwörerischem Ton: Foto gern. Aber eines muß Ihnen klar sein: Ich will hier nicht auf mein Aussehen reduziert werden.“
Die Familie, Kollegen und die Kunden begleiten gemeinsam Claudias Schritte zur Frau: Die Hormontherapie. Die Personenstandsänderung. Die geschlechtsangleichenden Operationen. Ihr Weg wird – Betriebswirte würden es so nennen – eine Teambuilding-Maßnahme. „Ich habe noch nie in meinem Leben so viel über mich und über andere Menschen erfahren“ sagt Claudia heute. „Ich bin innerlich stark geworden und gewachsen.“
„Es war eine unheimlich anstrengende – aber auch die schönste Zeit in meinem Leben“ sagt Claudia, wenn sie ein Resüme ihrer Transition ziehen soll. Weil sie endlich leben kann, wie sie ist. Sich nicht mehr verstellen muß. Keine Rolle mehr spielt. Weil sie in den Spiegel sehen kann und ihr gefällt was sie sieht. Und weil sie jetzt endlich auch in der Arbeit denken, handeln und agieren kann, wie sie sich fühlt.
In wenigen Wochen, am 6. Juni, feiert Claudia ihren fünften zweiten Geburtstag. Ob sie sich früher dazu entschieden hätte, wenn sie gewußt hätte, wie befreiend der Schritt wird und welche Unterstützung sie erfährt? „Alles hat seinen richtigen Zeitpunkt“ sagt Claudia. „Wer weiß, wie mein Weg verlaufen wäre, wäre ich jünger und weniger reif gewesen wäre.“
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